Systemische Ausrichtung

Gerade wenn man glaubt etwas ganz sicher zu wissen, muss man sich um eine andere Perspektive bemühen“.

Der Club der toten Dichter

Die systemischen Therapien betrachten den einzelnen eingebunden in seinem jeweiligen Bezugssystem, dabei hat die eigene Familie einen zentralen Stellenwert. Zum Familiensystem gehören nicht nur die aktuellen Mitglieder, sondern auch Mitglieder aus früheren Generationen. Die unbewusste Moral des Familiensystems, das Regelsystem, Familiengeheimnisse, Loyalitäten und die Verbundenheit zu einzelnen Mitgliedern bestimmen oft das eigene Handeln, aber schaffen auch Symptome, die mit der eigenen aktuellen Lebensweise auf den ersten Blick gar nichts zu tun haben.

Im Vordergrund des systemischen Ansatzes steht die Aufdeckung der Wechselwirkungen der einzelnen Mitglieder des Systems.

Ein Fallbeispiel

Sonja 25 Jahre, kommt wegen wiederkehrender Blasenentzündungen und Beziehungsproblemen zu mir. Gerade hat sie sich von ihrem Freund getrennt und berichtet, dass ihre Beziehungen nie sehr lange halten und immer wieder scheitern. Bei meinem therapeutischen Ansatz arbeite ich meistens methodenübergreifend, abhängig vom Anliegen und der Persönlichkeit des Klienten.

In der ersten Stunde erstelle ich gemeinsam mit Sonja ein Familien Genogramm und frage nach Besonderheiten. Sonja berichtet mir, dass sie ihren Vater nicht kennt, weil ihre Mutter von drei Männern auf einer Party vergewaltigt wurde. Die Mutter hat angeblich aus Scham, nie Anzeige erstattet und auch nie versucht herauszufinden, wer genau die Täter waren. Irgendetwas stört mich von Anfang an dieser Geschichte, ich kann es aber noch nicht so richtig einordnen.

In den nächsten Sitzungen erarbeite ich mit Sonja, wie das für sie ist, einerseits ihren Vater gar nicht zu kennen, andererseits Zeit ihres Lebens mit der Vorstellung zu leben, dass ihr Vater ein Vergewaltiger ist. Ich frage sie außerdem, ob sie ihre wiederkehrenden Blasenentzündungen, sowie ihr schwieriges Verhältnis zu Männern damit in Beziehung setzt. Sie sieht darin sofort einen Zusammenhang und berichtet, dass sie ein tiefes Misstrauen Männern gegenüber empfindet, aber auch ihrer Mutter misstraut, weil ihre Mutter jedes Mal ausweichend reagiert, sobald Sonja sie auf diese Vergewaltigung anspricht. Ich teile ihr meine Zweifel zu diesem Thema mit und sage ihr auch, dass ich von Anfang an das Gefühl hatte, dass irgendetwas an der Geschichte so nicht stimmt.

Klar ist auch, dass sie viele widersprüchliche Gefühle in Bezug auf ihren Vater empfindet. Einerseits macht sie sich Gedanken, dass 50 % ihrer Gene von ihrem Vater stammen, also von einem Gewalttäter, andererseits verspürt sie auch das Bedürfnis den Vater trotzdem kennenzulernen.

Nachdem sie etwa ein halbes Jahr zu mir in die Praxis gekommen ist, schlage ich ihr vor, doch einmal an einer Familienaufstellung mit diesem Thema der ungeklärten Vaterschaft und der „angeblichen“ Vergewaltigung teilzunehmen.

 

Kurze Zeit später macht sie bei einem Kollegen in einer Gruppe eine Familienaufstellung. Dort zeigt sich während der Aufstellung ein völlig anderes Bild. Der Stellvertreter des „Vaters“ ist sehr um ihre „Mutter“ bemüht, sehr freundlich und zugewandt. Auch ihr, der „Tochter“ ist er sehr zugewandt und liebevoll.

Meine Klientin ist stark erschüttert. Sie fährt kurz nach der Aufstellung zu ihrer Mutter und stellt diese zur Rede. Unter Tränen bittet sie ihre Mutter, ihr doch endlich die Wahrheit zu sagen. Die Mutter ist schließlich dazu bereit und erzählt ihr, dass eine Vergewaltigung nie stattgefunden hat. Stattdessen hatte sie ein Verhältnis zu ihrem damaligen Chef. Der war wesentlich älter als sie. Er war verheiratet und hatte schon eigene Kinder. Als er von der Schwangerschaft erfuhr, sagte er, dass er seine Familie nicht verlassen könne, aber bereit wäre, Mutter und Tochter zu unterstützen. Auch wollte er weiterhin ein Verhältnis zu ihnen pflegen. Als Sonja geboren wurde, kam er mit Blumen ins Krankenhaus und machte den Versuch, sich doch noch um Tochter und Mutter kümmern zu dürfen. Sonjas Mutter lehnt aber jede weitere Zuwendung ab. Sie beendete das Verhältnis und brach den Kontakt ab. All die Jahre über hat Sonjas Mutter den wahren Vater und die wahren Umstände vor ihrer Tochter und ihrem ganzen Umfeld geheim gehalten.

 

Die anschließenden Sitzungen mit Sonja gehen darum, die neuen Erkenntnisse einzuordnen und zu verarbeiten. Sonja ist sehr aufgewühlt, aber gleichzeitig auch sehr erleichtert und sehr froh. Etwas in ihr kommt zur Ruhe. Sie weiß, dass sie noch ältere Halbgeschwister hat, die sie vielleicht gerne einmal aufsuchen möchte. Auch ihren Vater möchte sie gerne suchen, wenn auch noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Sie ist noch nicht soweit.

In den nächsten Monaten macht Sonja eine erstaunliche Entwicklung durch. Sie wirkt viel reifer und ist in einem guten Kontakt zu sich selbst. Ihre Blasenentzündungen verschwinden vollkommen. Als sie einen jungen Mann kennenlernt, der weiter weg auf dem Lande wohnt, beschließt sie, zu ihm zu ziehen. Jetzt kann sie die Therapie beenden. Etwa ein halbes Jahr später besucht sie mich noch einmal. Es geht ihr gut und ihre Beziehung verläuft ganz anders als alle vorherigen.

 

Buchempfehlungen:

„Auch wenn es mich das Leben kostet“
Stephan Hausner

„Salutogene Aufstellungen“ Stephan Hausner

Du gehörst zu uns“ Marianne Franke Gricksch

„Trauma und Begegnung“ Peter Bourquin und Kirsten Nazarkiewicz

„Heilung ist ein Raum“ Peter Bourquin

„Der alleingebliebene Zwilling“
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„Die Bindungstheorie“ John Bowlby

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„Wunder Lösung und System“
Insa Sparrer

 

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